Blogpost vom 07. Juli 2023

Transparente Lieferketten mit SCT

Banner Supply Chain Transparency LKW vor Weltkarte

Vollständig transparente Lieferketten – angesichts globaler, weit verzweigter Handelsnetze alles andere als banal. Und für eine nachhaltige Zukunft trotzdem wichtig. Vom einzelnen Verbraucher über Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) bis zur europäischen und deutschen Politik ist in den letzten Jahren die Erkenntnis gereift, dass die unkontrollierte Exploitation von Mensch und Natur nicht ohne Folgen bleibt.

Was wir also dringend brauchen, sind verbindliche Mindeststandards, um Menschenrechte, Umweltverträglichkeit und die geschäftliche Integrität von Unternehmen entlang der globalen Wertschöpfungskette zu fördern und sicherzustellen.

Die Lage ist vielerorts besorgniserregend: So arbeiten etwa 73 Millionen Kinder auf Plantagen, in Minen und Steinbrüchen, statt zur Schule zu gehen, gelangen immer wieder Schadstoffe in die Wasserkreisläufe oder sind Unternehmen in Geldwäsche und Korruption verstrickt.

Die Vereinten Nationen und die OECD haben deshalb Vorschläge gemacht, wie die einzelnen Länder und Wirtschaftsunternehmen ihrer Verantwortung in diesen Belangen besser nachkommen können. Dabei haben sie es den Mitgliedsstaaten überlassen, diese Vorschläge auf freiwilliger Basis oder per Gesetz zu realisieren. Deutschland hat lange auf Freiwilligkeit gesetzt, um jetzt, aus Mangel an Engagement, doch ein Lieferkettengesetz vorzulegen. Dieses ist 2023 in Kraft getreten und umfasst diese drei wesentlichen Punkte:

  • Definition, Umsetzung und Dokumentation von unternehmerischen Pflichten im Bereich Menschenrechte,
  • Einrichtung einer Behörde für die Kontrolle und die Sanktionierung von Verstößen,
  • Stärkung der Arbeitnehmerrechte,
  • Schaffung einer Beschwerdestelle.

Das Gesetz hat dennoch viele enttäuscht. Den einen ist es nicht streng genug, den anderen geht es schon viel zu weit, wieder anderen gilt es als kaum umsetzbar. So haben etwa BDI, BDA und DIHK das Gesetz im Vorfeld jahrelang zu verhindern versucht, so groß war die Angst vor einem bürokratischen Monster.(1) Und auch die Gewerkschaft Gesamtmetall fürchtete um die Wettbewerbsfähigkeit deutscher M+E-Unternehmen im Falle eines Inkrafttretens des Gesetzes.(2)

Bei Micromata ist deshalb die Idee entstanden, die Transparenz in den Lieferketten auf digitalem Wege zu einem echten Vorteil für alle Beteiligten zu machen:

  • für die Verbraucher:innen, die damit eine informierte Kaufentscheidung treffen können,
  • für Unternehmen, die das Vertrauen der Verbraucher:innen und so neue Marktanteile gewinnen können,
  • für NGOs und gemeinnützige Vereine, die von einem konfrontativen Kurs in eine konstruktive Zusammenarbeit mit Industrie und Handel finden können.

Im Folgenden beschreiben wir die Idee einer Supply Chain Transparency und wie diese dezentral und mit einfachen digitalen Mitteln hergestellt werden kann.

Grafik Lieferkette

Supply Chain Transparency (SCT)

Das ist die Idee: Der Gesetzgeber stellt eine Plattform für mehr Lieferkettentransparenz bereit. Ihr Name: Supply Chain Transparency, kurz SCT. Hier können Hersteller und Anbieter für sich und/oder ihre einzelnen Produkte ein Profil anlegen, das wie ein Steckbrief funktioniert.

Diese Profile aka Instanzen enthalten alle Informationen zum Produkt, die der Hersteller preisgeben möchte und die für kritische Verbraucher:innen wichtig sind. Enthalten sind die Informationen über Qualität (Inhaltsstoffe, Materialien, Verarbeitung), Ressourcen (Energie, Wasser, CO₂), Human Resources (Arbeitsschutz, Arbeitsbedingungen, Entlohnung), Kosten (Rohstoffe, Materialien, Transport) und Informationen über den Zulieferer.

Wenn, wie in den meisten Fällen, Rohstoffe oder Teile zugekauft werden, kann auch deren jeweilige SCT-Instanz im Produktprofil verlinkt werden. So entsteht entlang der Lieferkette eine synchrone Transparenzkette aus SCT-Instanzen mit allen wichtigen Informationen. SCT arbeitet mit einem Punktesystem: Je besser die Produktbilanz in den definierten Kategorien, desto höher die Punktzahl.

  • Hat ein Produkt im Bereich XY gute Eigenschaften, bekommt es viele Punkte.
  • Hat ein Produkt im Bereich XY schlechte Eigenschaften, bekommt es weniger Punkte.
  • Wird ein Zweig der Zulieferkette zwar in SCT abgebildet, aber nicht veröffentlicht, bekommt das Produkt aus diesem Zweig weniger Punkte.
  • Wird ein Zweig der Zulieferkette nicht in SCT abgebildet, bekommt das Produkt aus diesem Zweig keine Punkte.

Thomas Müller

Softwareentwicklung

Jule Witte

Jule Witte

Presse & Kommunikation
presse@micromata.de

Vorteile für Unternehmen

Ein entscheidender Vorteil für Hersteller:innen ist, dass der Aufwand im Vergleich zum klassischen Dokumentations-, Prüf- und Berichtswesen minimal ist. Sobald eine Produktinstanz auf der SCT-Plattform angelegt ist, geschieht alles Weitere, also die Einsammlung und Weitergabe von Produktinformationen entlang der einzelnen Produktlieferkette, fast voll automatisch.

Entscheidend ist dabei, dass Unternehmen die Verantwortung für die Lieferkette großenteils an ihre Zulieferer weitergeben können und deren Produkteigenschaften nicht selbst aufwendig recherchieren und prüfen müssen. Außerdem behalten die Unternehmen die Hoheit über ihre SCT-Instanzen und die darin enthaltenen Produkteigenschaften. Sie müssen nicht mehr preisgeben als gesetzlich vorgeschrieben.

Wird ein gesetzlich verpflichtendes Attribut, wie z. B. das Verbot von Kinderarbeit, in einem Zulieferzweig nicht angewendet, bekommt das Produkt keine Marktzulassung.

Wichtig für Konsumierende

Die SCT-Informationen sind per QRCode auf der Produktverpackung abrufbar und leicht verständlich aufbereitet. Herkunft und Entstehung des Produktes lassen sich so ganz einfach per Smartphone nachverfolgen – entlang der kompletten Lieferkette. Heute enthält beispielsweise eine TK-Lasagne Hackfleisch aus artgerechter Tierhaltung und bekommt dafür ein prominentes Tierwohl-Label. Aus welcher Haltung jedoch der Käse, die Sahne oder die Eier für die Nudeln stammen, erfahren Verbrauchende zumeist nicht.

Da die Teilnahme an SCT freiwillig sein soll, werden solche blinden Flecken auch damit nicht gänzlich verschwinden. Allerdings steigt sehr wahrscheinlich die Bereitschaft zu mehr Transparenz, wenn damit die Kaufentscheidung der Kundinnen und Kunden positiv beeinflusst werden kann.

Supply Chain Transparency QR Code Beispielgrafik

Technische Funktionsweise

Es handelt sich bei SCT um ein verteiltes System. Jede SCT-Instanz ist eine eigenständige Anwendung mit eigener, abgesicherter Datenhaltung. Diese wird i. d. R. in der Cloud betrieben und ist in eine abgesicherte SCT-Infrastruktur eingebettet. Die Hoheit über die SCT-Instanz und die darin enthaltenen Daten verbleibt bei den Unternehmen, die sie betreiben.

Zulieferbeziehungen werden über Datenschnittstellen zu SCT-Instanzen anderer Produzenten hergestellt, so dass darüber die gesamte Lieferkette abgebildet wird. Kryptografische Verfahren stellen sicher, dass nur Informationen transferiert werden, die das Unternehmen wirklich weitergeben möchte. Und so funktioniert die Abfrage der Produktkriterien: SCT arbeitet mit nachladbaren Softwarekomponenten, so genannten SCT-Plugins. Für jede Bewertungskategorie eines Produktes gibt es SCT-Plugins, die z. B. vom Gesetzgeber bereitgestellt werden und die betreffenden Produktinformationen entlang der Herstellungs-/Zulieferungskette abfragen und weitergeben. Für den Fall, dass der Gesetzgeber naturgemäß ein bisschen länger braucht, können SCT-Plugins auch von Umweltorganisationen oder Herstellerverbänden bereitgestellt werden.

Supply Chain Transparency Schaubild mit Legende

Beispiel Tierwohl-Plugin: Welche Produktbestandteile kommen aus artgerechter Tierhaltung? Der Gesetzgeber definiert diese anhand der Kriterien Haltung (Stall, Weide, Stroh- oder Spaltböden, m2 pro Tier), Fütterung, Transport, Schlachtung. Diese Kriterien können durch das Tierwohl-Plugin entweder einzeln abgefragt werden oder als Komplettpaket mit einer einfachen Ja-/Nein-Frage. Auf der Ebene des Endprodukts steht dann eine Gesamtzahl, die sich einfach über die Lieferkette hinweg ermitteln lässt.

Beispiel Anbau-Plugin: Plugins für Agrarprodukte werden ebenfalls entlang der Zuliefererkette per Mausklick weitergereicht, wo sie dann entweder zugelassen oder abgelehnt werden können. Ein solches Plugin könnte folgende Informationen abfragen: Sorte, Herkunftsland, Anbaumethode, Einsatz von Düngemitteln, Pestiziden etc. Aus den gesammelten Informationen ermittelt die SCT-Plattform dann die Produkteigenschaften und Punktzahl des jeweiligen Endprodukts.

Beispiel Halal- bzw. Koscher-Plugin: Viele Verbraucher:innen fühlen sich an religiöse Speisegebote gebunden. Ein entsprechendes Plugin kann ihnen helfen, sich im Angebot der Supermärkte schneller zu orientieren und Unternehmen hilft es, in diesem Segment überhaupt wahrgenommen zu werden.

Supply Chain Transparency Topology Grafik

Open Source

SCT ist als ein Open-Source-System von öffentlichem Interesse und verfolgt keine kommerziellen Ziele. Es wird im Auftrag von Regierungsorganisationen, wie z. B. der EU spezifiziert, entwickelt, verteilt und so weit wie möglich selbst betrieben. Die Auftraggeber und Betreiber verpflichten sich, im System verankerte Algorithmen und Beurteilungskriterien im Sinne von Klimaschutz, Menschenrechten, Tierwohl, Datenschutz und wissenschaftlichen Erkenntnissen zu spezifizieren, zu implementieren und zu veröffentlichen.

Die im System implementierten Algorithmen, Beurteilungskriterien und der Quellcode der Software werden veröffentlicht, signiert und sind für jedermann einsehbar. Laufende Instanzen haben vertrauenswürdige Zertifikate, die bestätigen, dass der eingesetzte Programmcode mit den geltenden Regularien, Algorithmen und Beurteilungskriterien übereinstimmt.

SCT stellt offene Schnittstellen und Datenaustauschformate für vorhandene Warenwirtschaftssysteme wie z. B. SAP bereit, um etwa Materialstammdaten automatisch zu importieren. SCT ist dabei selbst kein Warenwirtschaftssystem im eigentlichen Sinne und will auch nicht mit diesen konkurrieren.

Unterschied zu Codecheck & Co.

Es gibt bereits Apps, die Transparenz auf dem Konsumgütermarkt herstellen wollen. Ein Beispiel dafür ist Codecheck, wo die Zusammensetzung von Kosmetika und Lebensmitteln geprüft und erklärt wird.

Die Informationen zu den Inhaltsstoffen erhält Codecheck von Verbraucherzentralen und verschiedenen NGOs aus dem Bereich Umwelt- und Artenschutz (Greenpeace, WWF, BUND usw.). Codecheck ist privatwirtschaftlich organisiert und werbefi nanziert und dementsprechend nicht frei von kommerziellen Einflüssen.

Vorteile von SCT

SCT wird aus öffentlicher Hand finanziert und ist zu Unabhängigkeit und Objektivität verpflichtet. Die Plattform umfasst neben den Inhaltsstoffen von Produkten auch Auskünfte zu Ressourcenverbrauch, Menschenrechten, Arbeitsbedingungen und Geldflüssen entlang der Lieferkette. Die Plattform versteht sich als Angebot an den Gesetzgeber, die Lieferkettentransparenz digital umzusetzen. Mit folgenden Zielen:

Verbraucherschutz: Verbrauchende werden immer kritischer und mündiger bei der Wahl ihrer Produkte. SCT bietet ihnen die Möglichkeit, eine informierte und verantwortungsvolle Kaufentscheidung zu treffen.

Markttauglichkeit: Statt auf Bürokratie setzt SCT auf die Freiwilligkeit der Teilnahme – als Ergänzung zum bestehenden Lieferkettengesetz oder zu dessen Umsetzung. Dabei gilt: Je höher die Transparenz, desto höher auch die Punktzahl und damit die Marktchancen eines Produkts.

Machbarkeit: Durch vollständig automatische Funktionen und Features trägt SCT dazu bei, die Aufwände zur Herstellung von Lieferkettentransparenz auf ein Minimum zu reduzieren und kommt so denjenigen entgegen, die eine transparente Lieferkette bisher für nicht umsetzbar halten. Durch die SCT-Infrastruktur und den off enen Plugin-Mechanismus ist die Einführung und Umsetzung neuer Regularien und Produktkennzeichnungen auch keine Sache von Jahren mehr, sondern nur noch von Wochen oder Monaten. Bei den Kosten verhält es sich ähnlich, weil die Umsetzung von Regularien nur einmal in einem Plugin erfolgen muss und dann allen Herstellern zur Verfügung gestellt wird.

Erweiterbarkeit: Durch das offene Plugin-Konzept können neue gesetzliche Regularien und Kennzeichnungen jederzeit und schnell in die Plattform eingebracht werden. Hersteller können diese prüfen, freigeben und neue gesetzliche Vorschriften oder Produktkennzeichnungen damit sehr schnell umsetzen.

Fazit

Wir brauchen mehr Transparenz in den weltweiten Handelsbeziehungen. Nicht aus moralischen Gründen allein, sondern auch, um die wirtschaftliche und politische Stabilität auf mittlere und lange Sicht zu erhalten und zu verbessern. Wenn wir für Mensch und Umwelt nicht deutlich mehr Verantwortung übernehmen, werden die humanitären und ökologischen Konsequenzen global spürbar sein. De facto sind sie es schon jetzt. Denn die Folgen von Klimawandel, Korruption und Ausbeutung sorgen in vielen Teilen der Erde bereits heute für Hunger, massive Gesundheitsschäden, politische Destabilisierung, Flucht. (Quelle: UNHCR) SCT will Politik und Wirtschaft operativ und praktisch unterstützen, diese Transparenz herzustellen und dabei die Verbrauchenden und verantwortlichen Marktakteure als natürliche Verbündete mitnehmen.

Das ist nichts weniger als ein kultureller Paradigmenwechsel auf einem Feld, auf dem sich die Interessen der Hersteller auf der einen Seite und die der Verbrauchenden und NGOs auf der anderen Seite oft unversöhnlich gegenüberstehen. SCT will ein niederschwelliges Angebot sein, das beiden Seiten Vorteile bietet: den Verbraucher:innen und NGOs mehr Transparenz, den Herstellern weniger Aufwand und die Chance auf neue Marktanteile.

Hier geht's tiefer in die technische Materie von SCT: Englisch oder Deutsch.